14. Januar 2010

Haiti



Ehe ich nach Kanada kam, war Haiti für mich eher Statistik als echter Platz. Ich wusste, dass sich der kleine Staat die ehemalige Insel Hispaniola mit der dominikanischen Republik teilte, dass es einmal die reichste Kolonie in der Karibik war, dass es seit fast 200 Jahren das ärmste Land der westlichen Hemisphäre war. Ich hatte Graham Greenes „Die Stunde der Komödianten“ gelesen und gehört, dass 75 % der Bevölkerung Haitis Vodoo praktizieren. All das Zahlen, die kein wirklich scharfes Bild ergaben, sondern nur die Aussage, dass es wohl auf Jahre keinen Sinn ergab sich dieses Land anzusehen, in dem seit Jahrhunderten bürgerkriegsartige Zustände herrschten, Entführungen, Schießereien, Bandenkriege und Milizenkämpfe an der Tagesordnung waren. Zumal die ohnehin desolate Infrastruktur in den vier Hurrikanen, die in kurzer Zeit 2008 über die Insel fegten, noch weiter zerstört wurde.
Doch dann zogen wir nach Vanier, mitten hinein in diesen bunten Einwandererbezirk mit seiner Mischung aus französischsprachigen Immigranten von Sudan, Benin, Burkina Faso, Kamerun sowie einer großen haitianischen Gemeinschaft.
In den letzten 20 Jahren sind drei Millionen Haitianer vor allem in die USA und nach Kanada gezogen, die Eltern betreiben häufig karibische Spezialitätenläden und Restaurants, die zweite Generation lebt den normalen amerikanischen Weg von Studium und Karriere... in Ottawa natürlich vor allem in den Regierungsbüros. Und so bekam Haiti ein Gesicht, es waren die Sänger auf dem multikulturellen Fest im Sommer, Kanadas Gouvernor General Michaëlle Jean, die alte Dame im Imbiss, die aus jamaikanischen Chilis, die selbst für Anand schärfste je gegessene Paste herstellte und natürlich unsere Nachbarin – die starke, energische und intelligente Yannick, die uns von ihrer Familie erzählte; den Hoffnungen der letzten Jahre, wo die Kriminalität etwas nachließ und die Tourismuseinnahmen stiegen. Von Familienmitgliedern, die sich nie an die kanadische Kälte gewöhnen konnten und zurückkehrten und mit bescheidenen Mitteln kleine Läden und Unternehmen gründeten und dann gerade wenn man hoffte, es kann selbst für Haiti eine Zukunft geben, dann passiert dieses Unglück. Das wirtschaftliche Zentrum des Landes: verschwunden, der Präsidentenpalast, die Krankenhäuser, die größte Kirche... alles wurde zerstört und so dachten Anand und ich als erstes an Yannick als wir von dem gestrigen Erdbeben der Stärke 7.0 mit Nachbeben der Stärken 5.9 und 5.5 hörten.
Gottseidank konnte sie uns versichern, dass es ihrer Familie und Schwester in Haiti gut geht. Sie müssen zwar im Hof ihres Hauses leben, da das Haus schwankt und keiner sicher weiss ob es stehenbleiben wird und wollen sich gleichzeitig nicht weiter in Sicherheit bringen, da sie ihre Besitztümer nicht ohne weiteres den Plünderern überlassen wollen. Doch, die Frage ist nun natürlich ob sie in Haiti bleiben können und wie viele weitere Haitianer mit kanadischen Pass, die in den letzten Jahren zurückgekehrt sind, werden sie möglichweise jetzt aus dem Land ausgeflogen und Haiti versinkt einmal mehr im Schatten dessen was es einmal war und was es sein könnte. Wieder gibt es soviele Tote auf Haiti, wieder wurde der Palast des Präsidenten zerstört (das letzte Mal während eines Putsches) doch diesmal war es die Natur, die über die Insel richtete... wie Yannick es doch formulierte:... am Seltsamsten mutet es an, dass in den Straßen alle Gebäude zerstört wurden, aber von den Bäumen fiel keiner um.. sie stehen immer noch in den angepflanzten Alleen in Reih und Glied und vielleicht wird das neue Haiti, das jetzt sicher mit internationalen Spendengeldern erbaut werden wird, doch endlich ein Segen für den Inselstaat sein, wenn die Bandenkriminalität in den Griff bekommen werden kann, wenn die Gelder nicht nur auf ausländischen Nummernkonten der Regierungsinhaber landen, wenn Korruption nicht alles behindert, wenn.... man kann nur hoffen. ...

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