7. Juni 2011

Nachbarschaftsangelegenheiten


Gestern abend spielte unser Klavierlehrer/Pianist/Radiomitarbeiter-Nachbar in der Unitarian Universalist Kirche, die sich drei Minuten Fußweg von unserem Haus entfernt befindet. Sein letztes Konzert war in einer anderen Stadt und damit für uns schlecht erreichbar gewesen, deswegen beschlossen wir nun zu diesem zu gehen. Es sollte um halb 8 beginnen, also waren wir ca. 10 Minuten vorher da. Nichts deutete daraufhin, daß innerhalb der Kirche ein Konzert stattfinden würde, keine Plakate, Hinweisschilder, fand es überhaupt statt? Wir brauchten sogar eine Weile, bis wir feststellten, daß man durch die Hintertür gehen musste. Im schlichten Kirchenschiff war dann aber der Nachbar mit seinem technischen Mitarbeiter damit beschäftigt jede Menge technisches Gerät aufzubauen und auf Besucher zu warten. Etwas später kamen noch zwei weitere Bekannte des Nachbarn, dazu gesellte sich ein Kirchenverantwortlicher und damit hatten wir die Endzahl des Publikums für diesen Abend erreicht. Die Kirche ist ein wenig die christliche Variante des islamischen Sufism und versteht sich als offen sämtlichen Randgruppen und auch anderen Religionen gegenüber. Dazu war es heiß im Holzraum mit den großen Fenstern... ich kenne nur Kirchen in denen es eiskalt ist, ich wurde noch nie in einer gekocht. Um Publikum anzulocken und die Temperaturen erträglicher zu gestalten wurden daraufhin die Haupttore geöffnet, das half mit der Hitze, lockte aber in Folge nur Moskitos an. Offenbar war die Stadt nach einem Wochenende voller Jazzmusik (der gerade andauernden Jazzwochen)... an einem Sonntag Abend durchaus gesättigt. Wir warteten noch eine halbe Stunde länger, zwischendurch verkündete der Nachbar uns nur, daß es lächerlich sei vor fünf Leuten zu spielen, er bräuchte Publikum... wir konnten aber auf die Schnelle keins besorgen. Irgendwann begann er dann doch zu spielen, W.A.Mozarts Variationen zu „Ah vous dirais-je, Maman“ (eine ähnliche Melodie wie von „Morgen kommt der Weihnachtsmann“). Die Noten las er dabei nicht in der gewohnten Weise von Blatt, sondern er hatte den eigentlichen Notenständer entfernt und legte lange Reihen von jeweils vier Blättern in den Flügel, woraus sie dann jeweils nach Beendigung herausgeworfen wurden. Das sah wild aus, schien aber System zu haben. Apropos wild, unser Nachbar läuft am Liebsten mit einer roten Pudelmütze auf dem Kopf herum, die zu allen Jahreszeiten getragen wird, das kombiniert er meist mit einer blauen Jacke, äußerst locker hängenden alten Jeans und Flip-Flops, deren ursprüngliche Farbe nicht einmal mehr erahnt werden kann. Wir hatten uns schon gewundert, wie die übliche Pianistenkluft mit ihm in Einklang gebracht werden konnte, nun gar nicht... aber immerhin, er hatte Jacke und Mütze weggelassen. Das Erlebnis dessen in einer fast-leeren Kirche zu sitzen und jemanden klassische Musik spielen zu hören, der aussieht, als wenn er gerade aus der nächsten Kneipe entliehen wurde, war fast surreal. Nach dem ersten Stück erklärte er uns den Flügel, der seines Wissens nach, das einzige Instrument in Vermont ist, daß „wohltemperiert“ gestimmt ist (im Gegensatz zum Regelfall der gleichgestimmten Pianos... ) und konnte mit Hilfe eines gleichgestimmten Digitalpianos die Unterschiede im Klang verdeutlichen, wobei wohltemperiert jeweils gefälliger klang (aber dann klingt ein Steinway Flügel eben auch in jedem Fall besser als das beste Digitalpiano). Nach dem verspielten Mozart ging es nun weiter mit Beethovens Sonate Op.10 Nr.3, die mich in manchen Teilen immer sehr an Filmmusik aus „Herrn der Ringe“ erinnert (Ich bin schlecht, ich weiß) gefolgt von Bachs klarer, schnörkelloser Partita in B-flat Major, was ich mit H-Dur übersetzen würde? Ich mag Bach, wenn ich dessen Musik in ihrer Klarheit höre, beginnen meine Gedanken und Erinnerungen zu fliegen. Ich denke an meine Familie und lange Autofahrten mit den Brandenburgischen Konzerten im CD-Player, schreibe mir „Nach Hause telefonieren“ auf die Hand und dann ist da natürlich auch noch Peter Ustinovs Frage in dem Buch „Der Alte Mann und Mister Smith“ ob Gott Bachs Musik überhaupt mag.
In der Pause erklärte uns der Kirchenverantwortliche wie die Gemeinde zu dem ca. 1920er Jahre Steinway-Flügel gekommen war. Sicher genug hatte unser guter Nachbar regelmäßig Empfehlungen für den Pianokauf gegeben, die jahrelang ignoriert wurden, bis dieses wenig gespielte Piano auf den Markt kam. Nachdem er es Probe spielte und fand, daß es das beste Instrument sei, daß er in Vermont je gespielt hätte und da es einen vernünftigen Preis hatte, konnten sie ihm diesmal nicht widersprechen und der Flügel wurde gekauft.
Nach der Pause ging es weiter mit dem modernen Stück Starry Night von Dennis Báthory-Kitsz, das bisher nur einmal gespielt worden war und sozusagen Weltpremiere auf dem wohltemperierten Klavier feierte. Bei dem Stück geht es um den Klang, den man hört sobald ein Ton angeschlagen wird, denn z.B. selbst ein tiefer Ton hat einen Nachklang von mindestens zwei weiteren höheren Tönen. Am Anfang dachte ich nur hm,hm aber letztlich verstand ich (vielleicht) was mit diesen Klangbildern erreicht wurde und war eigentlich ziemlich begeistert. Das letzte Stück des Abends fiel zusammen mit dem höchsten Grad von Müdigkeit meinerseits, es war gegen 10 Uhr, Schlafenszeit. So verschwammen mir die Augen völlig ungerechtfertigter Weise bei Chopins Sonate in B-Moll, Op.58. Das Stück wurde absolut sicher und technisch perfekt gespielt in einer Weise, die Wettbewerbsüben vermuten ließ. Gottseidank schafften es die dramatischen Bestandteile der Sonate mich sicher wieder aufzuwecken und danach hatte ich auch den Punkt müde zu sein überwunden.
Nach dem Konzert wurde das ganze technische Zeugs wieder verpackt, die Mikrophone landeten dabei sicher in Munitionskästen, die von Ian, unserem über uns lebenden Nachbarn stammen und dann lud Joe, unser Nachbar sein gesamtes Publikum zur Nachfeier in sein Haus ein. Kunststück bei fünf Leuten. Der Kirchenverantwortliche verneinte höflich und freute sich schon auf sein Bett. Wir anderen gingen derweil zu dem kleinen Häuschen in unserem Hinterhof. Da Joe derzeit seine Schlüssel vermisst, musste er durchs Fenster einsteigen um uns die Tür öffnen zu können, die verschwundene, wiederaufgetauchte Katze begrüßte mürrisch alle Neuankömmlinge und die erste Flasche Rotwein wurde geöffnet. Da das Haus zur Zeit in eine Art funktionstüchtiges Technikmuseum verwandelt wird, befindet sich alles in wildem Umbau, mit der zugestellten Terrasse und Möbeln über den nächsten Innenhof verstreut, wurde das Platzangebot etwas gering. (Doris, die alte Dame des Hinterhofs ärgert sich derzeit jeden Tag darüber... ) Er erklärte, demonstrierte den anderen Gästen all seine „Spielzeuge“ während wir diese Haustour schon hinter uns hatten und uns stattdessen in der Küche mit dem technischen Mitarbeiter und auch dem Mitbewohner unterhielten. Dieser Mitarbeiter ist mir bereits den ganzen Winter aufgefallen, denn auch wenn er nur Schnauzer und keinen Vollbart trägt, erinnert er mich immer so sehr an Petterson von ‚Petterson und Findus’ und er ist nett (ich wünschte ich könnte richtig gut zeichnen). Wir unterhielten uns über Rezepte, das Leben, Gott und die Welt und auch der Mitbewohner, mit dem wir uns noch nie unterhalten haben, gerade einmal wussten daß er existiert, stellten sich als sehr freundlich heraus. Und er meinte, ich wäre doch diejenige, die sich als Einzige gerne mit Doris unterhalten würde (Ich hatte glaube ich schon einmal erwähnt, daß die meisten Männer Angst vor ihr haben... :D) Nach einiger Zeit verließ der Rest des Publikums das Haus, Anand brachte noch etwas Bier von uns mit nach unten (kanadisches, was allgemein bemängelt wurde...:) wir aßen Kasserolle und sahen zu wie der Nachbar langsam in seine Alkoholpersönlichkeit wechselte. Das war für uns nichts Neues, es ist quasi meine Wochenend-Einschlafmelodie (aufgrund des geöffneten Schlafzimmerfensters) zu hören wie der relativ ruhige, langsam sprechende Mann zu einem schnell sprechenden Menschen wechselt, der fast religös seine (politischen) Meinungen an den Mann bringen will und außerdem jeweils äußerst verärgert ist. Leider hatte für den unbedingten Glauben an Meinungen niemand in der Küche den richtigen Fan-Publikums-Charakter und so sahen wir anderen uns nur an und sagten etwas wie: Duh. Dem Nachbarn ist es jedoch äußerst willkommen, wenn man ihn für verrückt halten könnte und so setzte er sich einfach noch eine Weile an den Flügel in seinem Haus und spielte nunmehr völlig stressbefreit auf. Da es bereits zwei Uhr morgens war, machten wir uns endlich auf den kurzen Heimweg und sicher genug, wurde ich nach vier Stunden von zwei auf mir tanzenden weißen Katzen aufgeweckt... es ist 6 Uhr, du musst jetzt aufstehen, viel Spaß an diesem Montag danke.

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